Erlebnisbericht

Die Poinger Wölfe



Der Schneefall der letzten Tage hat das Münchner Umland in ein wahres Winterwunderland verwandelt. Die untypischen Massen an Schnee spiegeln sich im chaotischen Treiben auf den Straßen wieder. So sind wir heilfroh, als wir endlich den Parkplatz des Poinger Wildparks erreichen. Es ist mucksmäuschenstill; nahezu ausgestorben. Trotz eines ganz normalen Wochentags, erwartet man offenbar keine Besucher. Die Kasse am Eingang unbesetzt. Freier Zutritt für die, die es dennoch wagen.
Schwer atmend stapfen wir durch das kniehohe Nass. Niemand hat sich die Mühe gemacht die Wege zu räumen. Wir nähern uns dem Wolfsgehege, das nur wenige hundert Meter hinter dem Eingang liegt. Doch statt des weitläufigen Geheges mitten im Wald, sehen wir nur eine meterhohe Barriere aus kalten Weiß. In den Maschen des Zauns hat sich nach und nach der feuchte Schnee verfangen.
Werden sie wach sein? Oder vielleicht eingerollt und von dicken Flocken bedeckt, alles verschlafen? Doch mit jeden Meter, den wir uns der weißen Wand nähern, wird das Winseln lauter. Schließlich geht das erregte Winseln in freudiges Jaulen über. Wir klopfen etwas Schnee vom Zaun. Krümel! Warum ausgerechnet ein so stattlicher Leitwolf und Anführer des Poinger Rudels, eine so putzigen Namen trägt, grenzt an Ironie.
Natürlich hat er uns schon gewittert, noch bevor wir die unbesetzte Kasse passierten. Fröhlich mit der Rute wedelnd begrüßt er uns. Freut sich, im wahrsten Sinne tierisch, während das restliche Rudel neugierig angetrabt kommt.

Viele warme und kalte Tage verbrachten wir mit ihnen; erlebten dabei schöne, als auch schreckliche Momente. Wir lernten jeden einzelnen des Rudels kennen und lieben. Nur selten konnten wir uns Lösen, um bei den restlichen Bewohnern des Parks „Hallo“ zu sagen. 6 Jahre begleiteten wir eine Generation von Gesellen im Wolfspelz:

Es begann vor langer, langer Zeit...

Der Bayerwald-Tierpark, am Fuße des Großen Aber im Bayerischen Wald, bekam am 2. Mai des neuen Jahrtausends Nachwuchs bei den Grauwölfen. Neun winzige Wolfswelpen, deren Großeltern aus der Wildnis der slowakischen Karpaten stammten, zählte man in der engen Wolfshöhle. Die Parkleitung beschloss jedoch nicht alle zu behalten, da das Gehege für die mit dem Wurf stark gewachsene Größe des Rudels zu klein war. Da traf es sich gut, das Wildpark Poing, unweit der bayerischen Landeshauptstadt, kurz zuvor sein neues Wolfsgehege fertig stellte und nun auf der Suche nach einem Rudel war.
Mit zwei Wochen öffneten die Welpen gerade erst ihre Augen und waren noch auf die Fürsorge der Eltern angewiesen. Aber Ersatz für die elterliche Pflege fand Wildpark Poing schnell im renommierten Verhaltensforscher und Wolfsexperten Dr. Erik Zimen. Er befasste sich damals mit der Zähmung des Wolfes, wie sie einst vor ca. 15.000 Jahren stattgefunden haben musste und aus der das mit den Menschen am engsten verbundene Haustier - der Hund - hervorging. Dazu zog er jedes Jahr auf seinem Hof in der Nähe von Passau Wolfswelpen mit der Flasche auf. Ihn interessierte besonders, wie und wann die natürliche Scheu der Welpen durch Fütterung und Zuwendung überwunden werden konnte, damit sie eine enge soziale Bindung zum Menschen aufbauten.
Für die bessere Unterscheidung bei der Aufzucht, als auch für seine Aufzeichnungen, gab er ihnen Namen. Dabei ließ er sich von den Figuren aus den Romanen von Astrid Lindgren und Michael Ende inspirieren. So erhielten die beiden Rüden den Namen Krümel und Michel und die Fähen nannte er Ida, Lina, Ronja und Momo.

Die kleine Rasselbande entwickelte sich prächtig und schließlich bezogen sie ihr neues Zuhause im Wildpark Poing.
Auf Dr. Zimens Wunsch holte Wildpark Poing eine weitere Wölfin aus Innsbruck. Der Gefährte der 13jährigen Zora, war kurz zuvor gestorben und so gab man ihr die Möglichkeit ihren Lebensabend wieder in Gesellschaft zu verbringen. Außerdem hatte sie in früheren Jahren selbst Welpen gehabt und war später immer wieder Ersatzmutter für ältere Welpen gewesen. Leider setzten die Gebrechen des Alters der Wölfin schon arg zu, so dass das Glück für sie nur von kurzer Dauer war.

Aber auch ohne Zora schlugen sich die sechs jungen Grauwölfe wacker. Die Rangordnung der beiden Rüden war schnell geklärt. Krümel etablierte sich schon früh als Alphawolf und Michel war mit seinen Platz in zweiter Reihe vollauf zufrieden.
Anders lief es bei den Wolfsdamen - den Fähen. Zickenkrieg war vorprogrammiert.  Besonders zwischen Ida und Ronja tobte ein ewiger Kampf. Ida nahm schon bald die Position der Alphawölfin ein und sah sich offenbar immer wieder von Ronja bedroht, die sich ihren Angriffen mutig zur Wehr setzte. Wogegen sie in der sehr devoten Lina, die sich stets um Anschluss im Rudel bemühte, weniger eine Rivalin befürchtete. Momo indessen hatte es schon schwerer. Immer wieder drangsalierte Ida sie, sobald sie es wagte sich aus ihrer hintersten Ecke des Geheges zu trauen. In den ersten Jahren sahen die Besucher sie noch öfters am Zaun. Aufgrund der ständigen Attacken der Alphawölfin, zog sie sich jedoch immer weiter zurück.

Rund zwei Jahre nach dem Bau des Wolfsgeheges, präsentierte Wildpark Poing voller Stolz den ersten Nachwuchs des Alphapärchens: Jonathan und Peter.
Zu Anfang trauten sich die beiden Welpen noch nicht in die Nähe des Zauns. Denn im Gegensatz zu ihren Eltern erfuhren sie keine Sozialisierung. Aber mit der Zeit und im Schutz des Rudels fasten sie langsam Mut und kamen zur Freude aller immer wieder auf wenige Schritte heran.

Im Mai 2004 gab es erneut Nachwuchs von Krümel und Ida. Jonathan und Peter bekamen drei kleine Brüder. Die Parkleitung entschied die Welpen dieses Mal nicht zu behalten. Bereits nach wenigen Tagen kam Wolfs-Expertin Tanja Askani, die im Wildpark Lüneburger Heide mehrere Wolfsrudel betreut, vorbei und nahm die Welpen mit. So fanden Rico, Lobo und Filou im niedersächsischen Wildpark Lüneburger Heide ein neues Zuhause.

Rico, Lobo, Filou die bei Tanja Askani leben

Eine Ära geht zu Ende

Das Rudel ist sehr aktiv. Ständig gibt es größere und kleinere Kämpfe, so dass wir eine Speicherkarte nach der anderen voll schießen. Es ist Winter und vor allem im Wald wird es schnell dunkel. Leider liegt heute auch kein Schnee, der das letzte Licht des Tages noch ein bisschen länger im Wolfsgehege gehalten hätte. Wir wissen, dass die Fotos bei so hohen ISO-Werten nicht von guter Qualität sein werden, aber trotzdem harren wir noch etwas länger aus. Bis auch wir uns eingestehen, dass es für heute vorbei ist. Während wir im Schein unserer Stirnlampen unsere Ausrüstung verstauen, geht nur wenige Meter neben uns ein neuer Kampf los. Aus einer Laune heraus löschen wir unsere Lampen und von einem Atemzug zum anderen wird es stockdunkel. Das Knurren des Angreifers geht uns durch Mark und Bein, während das Winseln des Unterlegenen in unseren Ohren schmerzt. Auch wenn wir auf der anderen Seite des Zauns nichts zu befürchten haben, wagen wir es kaum uns zu bewegen.
Plötzlich wird es still. Lediglich das Flüstern der Pfoten auf den mit alten Laub und Tannennadeln bedeckten Boden ist zu hören. Balsam, nach den erschreckenden Geräuschen.
Dann zerreißt ein neuer Laut direkt neben uns die stille Dunkelheit. Das Heulen eines einzelnen Wolfs. Doch er bleibt nicht allein. Nach und nach gesellen sich weitere Stimmen dazu. Vereinen sich zu einem Chor, der nicht nur kilometerweit zu hören, sondern auch bis tief in unsere Herzen zu spüren ist. Gänsehaut.
Erst als der letzte Ton verklungen ist, schultern wir noch etwas benommen unsere Rucksäcke  und gehen langsam Richtung Ausgang.

Wie jedes Jahr, begann im Februar 2005 wieder die Paarungszeit im Wolfsgehege. Während der sogenannten Ranzzeit, steht das Wolfsrudel immer unter großer Spannung, denn Wölfe haben nur einmal im Jahr die Möglichkeit Nachwuchs zu zeugen. Dies findet immer in den Wintermonaten statt, damit die nächste Generation genügend Zeit hat sich über den Sommer zu entwickeln.
In dieser spannungsgeladenen Zeit duldet die Alphawölfin normalerweise keine weiteren geschlechtsreifen Weibchen im Rudel und versucht sie durch erhöhte Aggressivität zu vertreiben. Dieses Verhalten legte Ida ebenfalls ziemlich vehement an den Tag, doch die potentiellen Rivalinnen ließen sich allerhöchstens bis zur Grenze des Geheges vertreiben. Das gefiel Ida nun gar nicht und sie startete immer wieder Angriffe auf die vermeintlichen Widersacherinnen, die ihr den Partner zu verlocken drohten. Dass die drei Fähen unter diesem Terror keinerlei Gedanken in dieser Richtung hegten, spielte für Ida keine Rolle. Sie waren da, läufig und somit pauschal eine Konkurrenz.  
Als Partner wählt sich die Alphawölfin in der Regel den stärksten Wolf aus dem Rudel, den Alphawolf. Forscher beobachteten dagegen bereits bei verschiedenen anderen Rudeln, dass sie neben dem Leitwolf die Gunst auch einem anderen hochrangigen Rüden gewährte. Bei den Poinger Wölfen, war das ganz klar der Alphawolf Krümel. Ob Michel zu den Auserwählten zählte, konnten wir nicht beobachten.

In diesem Winter verlief die Ranzzeit bei den Rüden wesentlich aggressiver als gewohnt. Denn Jonathan und Peter hatten die Geschlechtsreife erreicht. Jonathan, der eindeutig der Stärkere der beiden Jungwölfe war, forderte schließlich seinen Vater zum Kampf um die Vormachtstellung im Rudel. Es wurde ein langer und harter Kampf. Krümel, der sich seiner Position als Alphawolf nie ernsthaft behaupten musste, unterlag jedoch am Ende. Aber das reichte Jonathan nicht. Vermutlich sah er sich weiterhin von Krümel bedroht und griff ihn immer wieder an, um seinen neuen Rang weiter zu festigen. Die Verletzungen, die die wiederkehrenden Angriffe mit sich brachten, schwächten den ehemaligen Leitwolf. Dazu kam, dass er sich mit den damit verbundenen Schmerzen kaum mehr richtig zu bewegen vermochte und somit nur wenig Nahrung und Wasser aufnahm. Viele Besucher des Poinger Wildparks, als auch Angestellte, die Krümel wegen seines starken Menschenbezugs und gutmütigen Wesens ins Herz geschlossen hatten, machten sich große Sorgen um sein Wohl.
Wir, sowie alle anderen, die regelmäßig beim Gehege vorbei schauten, verstanden nicht, warum die Parkleitung nicht eingriff. So verstrich kostbare Zeit - in unseren Augen - ungenutzt.
Mit mehreren Wochen Verspätung erfolgten dann schließlich die lang ersehnten Taten. Parkarbeiter trennten die hinterste Ecke im Wolfsgehege durch einen Zaun vom Rest des Geheges ab. Ein Quarantänegatter, um kranke oder verletzte Wölfe vom Rudel zu separieren.
Ende April holte die Parkverwaltung Krümel aus dem Wolfsgehege. Jetzt konnten endlich seine unzähligen Wunden, allen voran die schrecklich zerbissenen Hinterläufe, heilen. Die vorsichtige Freude, die uns überkam, währte nur wenige Tage. Krümel war bereits sehr schwach gewesen und die Verletzungen zu schwer. Er wurde gerade mal fünf Jahre alt.

Nachspiel

Wie schon in den letzten Tagen rieseln Schneeflocken lautlos vom wolkenverhangenen Himmel herab. Im Wolfsgehege ist es heute erstaunlich ruhig. Als bräuchten sie eine Pause von ihren Rangordnungskämpfen. Aber vielleicht ist es auch nur die Ruhe, die man für kurze Zeit im Auge eines Hurrikans erlebt.
Die unzähligen Krähen in den umliegenden Bäumen geben dagegen nur wenig Ruhe. Unweigerlich fühlen wir uns an Alfred Hitchcocks "Die Vögel" erinnert, während das permanente "Kraaah, Kraaah, Kraaah" zu uns herab dringt.
Die Wölfe patrouillieren vereinzelt durchs Gehege. Es erweckt in uns den Eindruck, als würde ihnen die Präsenz der Krähen ebenfalls nicht gefallen. Zumal das eine oder andere schwarzgefiederte Exemplar im dreisten Tiefflug durch das Gehege gleitet.
Mehr aus den Augenwinkeln, sehen wir plötzlich wie Jonathan aus dem Stand einen Satz senkrecht nach oben macht und nach einem der krächzenden Störenfriede schnappt. Stolz erhobenen Hauptes läuft der Gewinner durch das Gehege. Präsentiert seine Beute die in Fetzen aus seinem Maul hängt. Bis Jonathan sich schließlich nieder lässt und die Überreste der Krähe genüsslich verspeist, während seine Artgenossen empört von den Bäumen krächzen.
Wir schmunzeln und blicken auf das erst vor kurzem neu aufgestellte Schild vor dem Wolfsgehege "Das Füttern der Wölfe ist strengstens verboten". Krähen können leider nicht lesen.  

Nach den dramatischen Ereignissen um Krümel, war das Wolfsrudel nicht mehr das was es mal war. Wie wir, schien Michel um seinen verlorenen Bruder zu trauern. Während Jonathan als neuer Alphawolf das Rudel mit roher Gewalt und permanenten Machtdemonstrationen regierte. Dabei machte er auch nicht vor den Fähen halt. Normalerweise gibt es im Wolfsrudel zwischen den Rüden und Fähen eine getrennte Rangordnung. Doch sobald Ida eine der anderen Fähen angriff, war Jonathan mit von der Partie. Ein Verhalten, das Forscher häufig bei den dies- und letztjährigen Welpen beobachteten. Bei seinem Vater – Krümel – beobachteten wir dagegen ein anderes Verhalten. Sobald der Kampf außer Kontrolle zu geraten drohte, ging er wie ein Schiedsrichter dazwischen und trennte die kämpfenden Parteien.
Auch wenn es den Anschein erweckt, war Jonathan nicht das personifizierte Böse im Wolfspelz. Besonders gegenüber seiner Gefährtin Ida zeigte er sich zärtlich und zuweilen sogar verspielt wie einst als kleiner Welpe.

Momo, die im Wolfsgehege seit langem das Leben einer Einzelgängerin führte, hatte große Probleme mit den Veränderungen, die mit Krümels Niedergang einhergingen. Ihr Platz im Gehege, war dem Quarantänegatter zum Opfer gefallen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als einen neuen Platz im Gehege zu finden, der der Alphawölfin genehm war. Diesen Platz schien es offenbar in Idas Augen nicht zu geben. Immer wieder ging sie, mit Jonathan im Gefolge, die Wölfin an. Gerade mal ein Monat nach Krümels Tod, starb Momo ebenfalls an ihren Verletzungen.

Mit den heißen Sommermonaten kehrte für kurze Zeit so etwas wie Ruhe im Wolfsgehege ein. Aber bereits mit dem nächsten Schnee begann das ganze „Spiel“ wieder von vorn: Ida wurde läufig und Jonathan bemühte sich nach Leibeskräften Nachwuchs zu zeugen. Nebenbei ließen die Beiden ihre Aggressionen erneut an einen der rangniedrigeren Wölfe aus. Dieses Mal fiel die Wahl auf Ronja. Verzweifelt versuchte sie sich der vehementen Angriffe zu erwehren. Das ging sogar so weit, dass sich Besucher des Wildparks Sorgen um die Wölfin machten und sich an die Parkverwaltung wandten. Kurz darauf verlegte diese die angeschlagene Wölfin ins Quarantänegatter, das bisher ungenutzt geblieben war. Der Stress, den die fremde Umgebung hervorrief, sowie die schweren Verletzungen waren für Ronja zu viel. Anfang April 2006 berichtete man uns von ihrem Tod.

Das einst achtköpfigen Rudel zählte nun nur noch fünf Wölfe: Die Alphawölfe Jonathan und Ida, Peter, Lina und der ruhige Michel. Daher beschloss die Parkleitung den nächsten Wurf, der sich mittlerweile sichtbar durch Idas geschwollenen Bauch zeigte, zu behalten. Außerdem hofften sie, dass sich durch die Welpen die Aggressionen im Gehege etwas legen würden, denn nach Ronjas Tod waren es nun Lina und Michel die abwechselnd unter den Attacken der Alphawölfe litten. Peter, der sich gegenüber den Alphas stets ausgesprochen loyal zeigte, beteiligte sich sogar hin und wieder bei den Angriffen.

Mitte Mai zeigte sich Ida von einen auf den anderen Tag wieder erschlankt. Doch entgegen gängiger Lehrmeinung, trieb sich Ida im Gehege herum und schien sich nicht im Geringsten um die Welpen zu kümmern. Auch 6 Wochen später, wenn normalerweise die Kleinen erstmals auf Erkundungstour außerhalb der Höhle gehen, konnten wir nichts dergleichen entdecken. War Ida am Ende nur Scheinträchtig gewesen? Oder waren die Welpen bei oder nach der Geburt gestorben?
Während wir noch über den Verbleib des 2006er Wurfs grübelten, spitze sich für Lina und Michel die Lage im Wolfsgehege weiter zu. Lina, die bereits durch die Angriffe schlimme Wunden davongetragen hatte, entdeckten wir zeitweise gar nicht mehr im Gehege. Aus lauter Angst vor weiteren aggressiven Überfällen, versteckte sie sich in einer Erdhöhle. Michel, der ebenfalls unter den Attacken litt, versuchte sich einigermaßen den Rücken freizuhalten, in dem er sich in einer der Erdkuhlen direkt am Zaun verkroch.

Während wir nur hilflos zusehen konnten und um die geschundenen Wölfe bangten, herrschte großer Trubel rund um das neu errichteten Bärengehege: Der in der Presse als Problembär bezeichnete Braunbär Bruno, bzw. JJ1, der seit dem Frühsommer das österreichisch-bayerische Grenzgebiet unsicher machte, sollte nach erfolgreichen Fang in das Gehege einziehen. Es kam jedoch anders: Knapp einen Monat nach der ersten Sichtung auf deutschen Gebiet, kam die Freigabe zum Abschuss und kurz drauf war Bruno auch schon tot.
Nachdem das Gehege nun Leer blieb, plante die Parkleitung für Oktober den Einzug eines skandinavischen Braunbär-Pärchens. Die Bärendame entschied sich jedoch nicht den mit ihrem Umzug verbundenen bürokratischen Papierkram abzuwarten und verabschiedete sich in den Winterschlaf. So musste der Einzug auf das nächste Jahr verschoben werden.
Letztendlich kam das ganze Hin und Her beim Bärengehege den Wölfen zu Gute. Denn während der Sommermonate war es beim Status Quo geblieben und die nahende Ranzzeit hang wie ein Henkersbeil über Lina und Michel. So beschloss die Parkleitung die beiden Wölfe ins Bärengehege umzusiedeln.

Eine neue Hoffnung

Hinter dem Flugplatz auf dem im Sommer zweimal täglich die Greifvogelschau vorgeführt wird und dem weitläufigen Damwildgehege, liegt das riesige neue Bärenreich. Neben einer flachen Hügelkette und einem kleinen Wald, umfasst es noch einen recht großen See inklusive Inseln. Neugierig wandern wir am Gehege entlang und werfen immer wieder suchende Blicke hinein. Wo sind die beiden? Geht es ihnen gut?
Oben auf dem Damm hat man einen guten Überblick über das Gelände. Doch wir können weder Lina noch Michel entdecken. Wenn sie sich hinten am Bärenbunker aufhalten, stehen die Chancen schlecht, dass wir sie zu Gesicht bekommen.
Wir haben inzwischen die kleine Holzbrücke am hinteren Ende erreicht und schon fast die Hoffnung aufgegeben. Doch da sitzen sie hinter der Hügelkette. Seite an Seite genießen sie den Sonnenuntergang wie ein verliebtes Paar. Könige in ihrem neuen Reich.
Wir bleiben bei ihnen bis die Sonne untergegangen ist und freuen uns für ihr Glück. Dann machen wir uns langsam auf den Rückweg. Als wir die Abbiegung Richtung Flugplatz erreichen, schauen wir ein letztes Mal zurück. Beide stehen am Zaun und blicken uns nach. Als würden sie uns noch sagen wollen: Schön das ihr uns besucht habt. Kommt bald wieder.

Lina und Michel lebten sich recht schnell im Bärengehege ein. Jeder, der die beiden etwas näher kannte sah, dass die permanente Anspannung, unter der sie bisher im Wolfsgehege standen, von ihnen abfiel. Gelassen liefen sie durch das riesige Bärengehege oder lagen im Gras und ließen sich die Sonne auf den Pelz brennen.

Anders sah es im Wolfsgehege aus. Aufgeschreckt durch die Aktivitäten der Parkmitarbeiter während des Umzugs oder aber vielleicht weil die zwei "Prügelknaben" plötzlich einfach nicht mehr aufzufinden waren, liefen die drei verbliebenden Wölfe Jonathan, Ida und Peter nervös und rastlos durch das Gehege. Aber schließlich gewöhnten sie sich an die neue Situation und es ging tatsächlich mal etwas harmonischer und weniger kämpferisch im Wolfsgehege zu.

Während der Osterfeiertage 2007 bezog endlich die achtjährige Braunbärin Mia aus Schweden das Bärengehege. Zur Freude der Besucher brachte sie statt einem ausgewachsenen Bärenmännchen, drei süße kleine Bärenmädchen namens Maja, Mette und Molly mit.
Zur Sicherheit der kleinen Bärenkinder, entschloss sich die Leitung des Wildparks Poing dazu, die beiden Wölfe Michel und Lina vorerst von den Bären getrennt zu halten. Später, wenn die Kleinen groß genug wären und die Wölfe keine Gefahr mehr für sie bedeuteten, wollten sie die Wölfe mit den Bären zusammenlegen. So trennten sie einen kleinen Teil des Bärengeheges durch einen Zaun ab und setzten die beiden Wölfe hinein.
Lina war mit der plötzlichen Einschränkung überhaupt nicht einverstanden. Immer wieder versuchte sie aus dem abgeteilten Gehege auszubrechen. Ein paar Mal gelang ihr das sogar und sie genoss für kurze Zeit wieder die Vorzüge des großen Geheges. Braunbärin Mia, die man zusammen mit Ihren drei Kindern zur Sicherheit wieder in das kleine Vorgehege beim "Bärenbunker" sperrte, zeigte ebenfalls ihren Unwillen gegenüber dem kleinen Gehege und versuchte sich bereits unter dem Zaun durchzugraben.
Die Parkverwaltung verstärkte rund um das Wolfsgehege die Zäune und drehte sogar den Strom des Elektrozauns höher. In der Hoffnung dass der Stromschlag die Wölfin von weiteren Fluchtversuchen abhielt. Aber wieder entkam die bereits sichtbar trächtige Wölfin ins Bärengehege und ein weiteres Mal sah sich die Parkverwaltung gezwungen das Wagnis einer Betäubung einzugehen, um die Wölfin wieder zurück in das separierte Gehege zu transportieren. Doch dieses Mal schien irgendetwas schief gelaufen zu sein, denn Lina wachte nicht mehr aus der Betäubung auf.

Kreislauf des Lebens

Es ist ein warmer Tag Ende Juni. Vereinzelte Sonnenstrahlen suchen sich ihren Weg durch das dichte Blätterdach bis auf den Boden des Wolfsgeheges. Wir entdecken Ida dösend unterhalb eines umgekippten Baumstammes. Sie ist nicht allein. An ihren Bauch kuscheln sich eine kleine Schar dunkler Pelzknäule. Hin und wieder kommt Bewegung in die verschlafene Bande, wenn einer der Welpen einen noch besseren Platz an Mamas Seite sucht. Wir beobachten und fotografieren das friedliche Beieinander.
Plötzlich steht Ida auf und verschwindet. Die Kleinen bleiben allein zurück. Neugierig tapsen sie erst durch die nähere Umgebung. Doch schon nach wenigen Minuten drängen sie sich wieder dicht aneinander und vermissen ihre Wärmequelle Mama.
Es dauert eine Weile, aber schließlich kehrt Ida zurück. In ihrer Schnauze trägt sie einen riesigen Fleischbrocken, den sie den Kleinen serviert. Wie eine Miniaturausgabe eines hungrigen Wolfsrudels stürzen sich die Welpen auf das Fleisch. Ziehen und zerren an allen Enden. Während wir uns noch fragen ob die Kleinen damit nur spielen oder auch fressen, taucht Jonathan auf. Er beobachtet seine Nachkommen eine Weile, wie sie sich mit dem Fleisch abmühen. Er ist ganz der stolze Papa.
Nachdem Ida sicher gestellt hat, das jeder der kleinen Rasselbande ein Stück Fleisch zum drauf rumbeißen hat, lässt sich etwas abseits der Schar erschöpft nieder. Kurz darauf krabbeln die Welpen wieder um und über sie. Es wird ruhiger. Ida, als auch die Welpen sind eingeschlafen.

Im alten Wolfsgehege bekamen wir Anfang Juni erstmals den Nachwuchs von Ida und Jonathan zu Gesicht. Laut Auskunft des Wildpark Poings handelte es sich bei den sieben Wolfswelpen um fünf Rüden und zwei Fähen. Die kleine Wonnepropen entwickelten sich prächtig und selbst für ihren Onkel Peter hatte das Familienglück der Alphas durchaus etwas Positives: Jonathan war vollauf mit seiner Vaterrolle beschäftigt, so dass ihm keine Zeit mehr blieb seinen Bruder zu drangsalieren. Denn seit Beginn des neuen Jahres war die Rolle des Prügelknaben Peter zugefallen und er bekam diesmal am eigenen Leib zu spüren, was seine Vorgänger durchmachen mussten.
Nachdem Jonathan in also endlich in Ruhe ließ, heilten seine Wunden langsam und so führte auch Peter in diesem Sommer ein recht gutes Leben im Wolfsgehege. Der liebe Onkel wollte er aber für die Welpen eindeutig nicht sein. Denn sobald sie ihm zu sehr auf den Pelz rückten, suchte er das Weite.

Der Winter brach an und auch wenn vom Schnee weit und breit nichts zu sehen war, zogen sich die Bären langsam für den Winterschlaf zurück. Dies nutzte die Parkverwaltung um den Zwischenzaun der Michel vom Rest des Bärengeheges trennte, abzubauen. Zum ersten Mal nach rund 8 Monaten streifte Michel wieder durch das weitläufige Bärengehege.
Die Zusammenlegung mit den Bären klappte von Anfang an ohne große Zwischenfälle. Zwar gab es immer wieder kleine Verfolgungsjagden und gelegentlich etwas Gerangel, doch zeigte sich schnell das sich beide Parteien längst aneinander gewöhnt hatten. Die Gesellschaft der Bären die nach Wegfall des Trennzauns erst richtig zum Tragen kam, war sicher nicht schlecht für den einsamen Wolf, der bis dahin teils unermüdlich am Zaun auf und ab wanderte und den Gerüchen und Geräuschen des großen Rudels aus der Ferne lauschte.

Zu Beginn 2008 spitzte sich im Wolfsgehege die Lage erneut dramatisch zu. Der einst noch in der Führungsriege agierende Peter geriet wieder in arge Bedrängnis und diesmal nicht nur durch Jonathan, sondern auch der Nachwuchs machte eifrig mit. Die Attacken zogen heftige Verletzungen nach sich, an denen er aber leider nicht ganz unschuldig war. Obwohl er mittlerweile am untersten Ende der Rangfolge eingeordnet war, konnte er seinen Trieben einfach nicht wiederstehen und deckte die Fähen. Der Parkleitung war klar, dass er den Winter nicht überleben würde und so holten sie den uneinsichtigen Tropf aus dem Wolfsgehege und setzten ihn zu Michel ins Bärengehege.
Die beiden Wölfe vertrugen sich von Anfang an erstaunlich gut. Weniger erfreulich war dagegen zu Anfang der Umgang mit der Bärenfamilie: Peter und die Bären wussten nicht so richtig miteinander umzugehen, was schon in dem einen oder anderen größeren Gerangel endete. Aber offensichtlich schienen keine der beiden Seiten darauf aus, dem anderen ernsthaft zuzusetzen, denn alle Auseinandersetzungen endeten stets ohne nennenswerte Blessuren.

Was zurück bleibt

Im Bärengehege lebten nun Michel und Peter in friedlicher Koexistenz mit den Bärinnen. Während Jonathan weiterhin im Wolfsgehege regierte, stets Fürstin Ida an seiner Seite. Im bevorstehenden Winter, zur Ranzzeit würden die sieben Jungwölfe aus dem 2007er Wurf geschlechtsreif sein. Ob dann einen Jonathan 2.0, seinem Vater die Machtposition streitig machen würde?
Es interessierte uns nicht mehr. Der Zauber, den das ursprüngliche Wolfsrudel damals über uns legte war fort, so wie auch das Rudel das wir einst kannten längst fort war.  Von den sechs Grauwölfen der ersten Stunde, die einst Dr. Erik Zimen mit der Flasche aufzog, waren nach acht Jahren nur noch Michel und Ida übrig. Verstreut in verschiedene Ecken des Wildparks. Irgendwie war uns damit auch der Enthusiasmus abhanden gekommen, mit dem wir Tag ein Tag aus bei den Wölfen und den anderen Tieren des Wildparks verweilten. So kam es, dass wir in den drauf folgenden Jahren immer seltener im Wildpark Poing vorbei schauten.

Die Wölfe, die heutzutage durch das Gehege streifen sind uns fremd. Nachkommen derer, die wir einst fast als Freunde bezeichneten. Denn auch die letzten uns vertrauten Pelzgesichter sind fort. Wir wissen nicht ob Michel, Ida, Jonathan und Peter bei Kämpfen ihr Leben ließen, einer Krankheit oder schlicht dem Alter zum Opfer fielen. Wenn wir ehrlich sein sollen, möchten wir es gar nicht wissen und einfach nur glauben dass sie alle vier zu guter Letzt ihren Frieden gefunden haben.

Wenn wir mal wieder die Muse finden und durch den Wildpark schlendern oder durch unser Fotoarchiv blättern, erinnern wir uns gerne an die Zeit zurück, als uns das ganze Rudel, angeführt von Krümel freudig am Zaun begrüßte. Jonathan wie ein kleiner Welpe mit seiner Gefährtin Ida spielte oder Michel, der erhobenen Schwanzes zusammen mit Lina durch das Bärengehege streifte.
Niemals werden wir die Winterabende vergessen, wenn die meisten Besucher bereits wieder zuhause in der warmen Stube saßen, während das Rudel allein für uns zum Wolfskonzert ansetzte.