Schon von Weiten drängen laute Musik, Fanfarenstöße und wilde Trommeln an unser Ohr und kaum haben wir die letzte Biegung hinter uns gelassen, erblicken wir die bunt wehenden Fahnen auf der Anhöhe. Sie gehören zu Schloss Kaltenberg, dass nur gerade mal 40 Kilometer vor den westlichen Toren Münchens liegt und einen Teil der König Ludwig Schlossbrauerei beherbergt. Doch das ist nicht der Grund unseres seit vielen Wochen geplanten Besuches und des großen Tohuwabohus, das uns gerade willkommen heißt.
Noch schnell unsere 'Droschke des 21. Jahrhunderts' auf den extra dafür abgesteckten Wiesen abgestellt und schon stürzen wir uns ins mittelalterliche Getümmel. Als erstes begegnen uns Gardisten mit Hellebarden und werfen grimmige Blicke auf die Besucherscharen, die an ihnen vorbei ziehen. Junge Burschen und Mägde mit geflochtenen Körben zu ihren Füssen oder schweren Umhängetaschen über den Schultern, preisen lauthals bunt bedruckte Programmhefte an.
"Passierschein" fordert uns plötzlich einer der mittelalterlich gekleideten Wachleute, der direkt unter dem Torbogen steht, auf. Wir zeigen ihm unser Eintrittskarten. Mit einem kurzen Nicken lässt er uns passieren und schon zieht uns der Zauber von Kaltenberg unweigerlich in seinen Bann...
Seit 1980 findet alljährlich an drei Juliwochenenden rund um Schloss Kaltenberg, ein mittelalterliches Spektakel statt, das Weltweit unübertroffen ist. Denn es ist das Größte seiner Art. So kommen die Leute von nah und fern, um sich für einen Tag in ein mittelalterliches Leben entführen zu lassen und Zeuge eines atemberaubenden Ritterturniers zu werden. Armut, Krankheit und Schmutz sind ausgeblendet, so dass die schönen Dinge dieser Zeit richtig zur Geltung kommen.
Inspiriert von einem mittelalterlichen Turnier im englischen Canterbury erschuf Prinz Luitpold von Bayern, Urenkel des letzten bayerischen Königs Ludwig III., das Ritterturnier auf dem Gelände seines Wohnsitzes und lud das einfache Volk ein, daran teilzunehmen. Im ersten Jahr zählte man schon 5.000 Besucher. Seither sind die Besuchermassen, wie auch das Angebot von Kaltenberg gewachsen. Aus der einst grünen Turnierwiese wurde eine richtige Arena, die später noch eine überdachte Loge erhielt, so dass heutzutage an die 12.000 Besucher in den Genuss des spektakulären Turniers zu kommen.
Der mittelalterliche Markt drum herum besteht schon längst nicht mehr nur aus ein paar Buden, sondern zählt inzwischen mehr als 100 Händler und Handwerker. Mittelalterliche Gewänder, Schmuck, Gefäße, Taschen, historisches Spielzeug, exotisches Räucherwerk, duftende Seifen und noch vieles andere mehr kann man an deren liebevoll hergerichteten Ständen erstehen. Aber nicht nur das. Viele der Stände laden auch einfach nur zum verweilen ein, denn wo ist es einem heutzutage noch vergönnt dem Handwerker beim Schaffen auf die Finger zu schauen.
Hier und da erspäht der Besucher Fragmente des mittelalterlichen Lebens, so wie es vor hunderten von Jahren gewesen sein mag. So schürt in der Nähe der alten Fasshalle ein Köhler seinen Meiler oder in der Großschmiede neben der Arena schlägt ein kräftiger Schmied das glühende Metall auf seinem riesigen Amboss in Form.
Wenn die Arbeit schließlich hungrig und durstig macht, so braucht man sich nur einmal kurz umzusehen. Überall auf dem Marktgelände verteilt sind die unterschiedlichsten Stände zu finden, die für Leckermäuler, Naschkatzen oder auch hungrige Löwen was zu bieten haben. Wer sich dagegen lieber in ein richtiges Restaurant setzen möchte, dem ist auch gedient. Neben dem klassischen Biergarten sind insgesamt drei Restaurants auf dem Gelände zu finden: Das Bräustüberl mit gehobener Küche direkt im Schloss, die Ritterschwemme mit traditionell bayerische Küche oder das Walhall wo man schlemmt, wie einst die nordischen Götter.
Lustig, furchterregend, spannend, abenteuerlich, mystisch und mitreisend sind die Aktionen, die auf den sieben Bühnen auf dem Gelände von Kaltenberg geboten werden. An die 1.200 Künstler, wie Feuerspucker, Schwertkämpfer, Jongleure, Zauberer, Tänzer, Akrobaten, Märchenerzähler und Puppenspieler buhlen um des Zuschauers Gunst. Aber auch mitten auf der Straße sind sie zu beobachten, wenn sie plötzlich zu einer Tanzmusik aufspielen, gerüstete Wachen einen Dieb verhaften oder der Narr Wandelbar mit seinem gefürchteten Staubwedel zu Werke schreitet. Den Kostümen, die sie tragen sind keine Grenzen gesetzt. Nicht nur von der Frühgeschichte bis zur Renaissance ist alles zu sehen, auch aus allen Herrenländer und Bevölkerungsschichten scheinen sie zu stammen. Und nicht nur das. Fabelwesen wie sie nicht fantastischer sein können tauchen plötzlich in der Menge auf und entfachen Staunen bei den Besuchern.
Auf der Waldbühne sind neben ein paar anderen Unterhaltungskünstlern, die fantastischen und geheimnisvollen Wesen von Feuervogel anzutreffen, die mit ihren Darbietungen Geschichten erzählen, die aus einer anderen Welt zu stammen scheinen.
Besonders großer Ansturm herrscht an der Rabenbühne direkt neben der Arena. Kaum das der Höllenrauch aufsteigt, die ekstatischen Trommelrhythmen ertönen und die urgewaltigen Klänge der Dudelsäcke einsetzen, ist der weitläufige Platz vor der Bühne gefüllt. Es scheint, als ob die Musikanten ein Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, der selbst in der vorderster Reihe auf der Bühne steht. Die Rede ist natürlich von Corvus Corax, den Königen der Spielleute, die seit 1992 fester Bestandteil des Kaltenberger Ritterturniers sind. Mit ihren selbst gebauten Instrumenten spielen sie zu lateinischen oder mittelhochdeutschen Liedern ihre eigene Interpretation von mittelalterlicher Musik, wie sie wilder nicht sein könnte.
Doch so allmählich wird es Zeit sich dem Hauptgrund des Besuches zuzuwenden: dem Ritterturnier. Je nachdem, an welchen Tag man auf Kaltenberg ist, findet das Ritterturnier mittags, abends oder sogar nachts statt. Doch ist der Auftakt immer gleich: Eineinhalb Stunden vor Beginn findet ein großer Umzug, an dem alle Künstler teilnehmen, auf dem Gelände statt. Eine nicht enden wollende Karawane aus kunterbunten Gestalten zieht an den staunenden Schaulustigen vorüber und findet sich schließlich im wilden Durcheinander in der Arena ein.
Nachdem auch der letzte die Arena verlassen hat, begrüßt Prinz Luitpold seine Gäste und kurz darauf beginnt die Show. Unter der Moderation des Turniermarshalls Graf Rudolf zu Kaltenberg (alias Roman Röll) versinkt das Publikum für anderthalb Stunden in ein fantasievolles Märchen aus vergangener Zeit. Aber es wird keineswegs immer dieselbe Geschichte erzählt. Nein. Jedes Jahr wird ein ganz neuer Erzählfaden gesponnen, der die Zuschauer durch das Turnier führt. Lediglich der Tenor bleibt der Selbe: Ehre, Liebe und der Kampf zwischen Gut und Böse, die in einer atemberaubenden Tjoste und wilden Schwertgefechten immer wieder hart umkämpft wird.
Für Drehbücher und Regie zeichnet sich seit vielen Jahren Mario Luraschi verantwortlich. Der französische Stuntman ist einer der erfahrensten Pferdetrainer, dessen Pferde mittlerweile in fast 500 Filmproduktionen zu sehen waren und auch in der Turniershow zu sehen sind. Er selbst wirkte ebenfalls in vielen Filmproduktionen wie etwa „Ritter aus Leidenschaft“ oder „Lucky Luke“ mit und gastierte mit seinen Shows bereits in Las Vegas und Disneyland. Natürlich ist er auch selbst in der Arena zu sehen, wenn er die hohe Kunst des Reitens vorführt und anschließend sein Stuntteam Cavalcade ihre waghalsigen Pferdestunts präsentieren lässt.
2008 war erstmals eine Frau unter den mutigen Recken und beendete so die bis dato bestehende Vorherrschaft der Männer in der Königsdisziplin des Ritterturniers, der Tjoste.
Aber nicht nur die Stuntmänner und -frauen leisten großartiges in der Arena. Einen wesentlichen Teil tragen auch die Pferde bei. Es ist kaum zu glauben das ein Stuntpferd an die fünf Jahre harten Trainings benötigt, um so gut zu sein wie in der Arena oder im Film. Jedoch heißt das nicht, dass jedes Stuntpferd die Tjoste beherrscht. Denn diese erfordert nochmals eine spezielle Ausbildung, die nicht von alle Stuntpferden durchlaufen wird.
Neben einem großartigen Turnier steht Kaltenberg auch dafür, dass sie noch nie eine Veranstaltung wegen schlechten Wetters abgebrochen oder gar abgesagt haben. Selbst bei Regen wird die Aufführung fortgesetzt, während das Publikum unter Regenmänteln Schutz sucht (Regenschirme sind wegen Sichtbehinderung nicht erlaubt). Lediglich am vorletzten Vorstellungstag 2009, als Graf Rudolf zu Kaltenberg gerade verkündete, das dunkle Tage anbrachen, nahm ihn der Himmel mit düsteren Wolken gar allzu sehr bei Wort und öffnete seine Schleusen. Innerhalb von wenigen Minuten stand die Arena unter Wasser, so dass die Vorstellung ausnahmsweise unterbrochen werden musste. Selbst die Tribüne war nicht mehr von der gegenüberliegenden Seite zu erkennen. Doch kaum das der Starkregen endlich nachgelassen hatte, stand ein triefendnasser Moderator wieder in der Arena und lud das tapfere Publikum ein, dem Rest der Geschichte zu folgen. Unverdrossen, auch wenn Ton und Beleuchtung stark in Mitleidenschaft gerissen worden war, machten die Darsteller weiter und boten trotz aller Widrigkeiten, die das Unwetter mit sich geführt hatte, eine tolle Vorstellung, die in einen rasanten Schwertkampf zwischen dem guten Ritter und dem schwarzen Ritter gipfelte.
Seit 2006 gibt es ein weiteres Spektakel, das nicht unerwähnt bleiben sollte: Die Gauklernacht, die allein den Artisten, Zauberkünstlern, Narren und anderen schaustellenden Künsten gehört. An einem Tag unter der Woche, ebenfalls im Juli, gehört das Gelände rund um Schloss Kaltenberg ihnen. Nur für diesen Tag sind neben den regulär an den Turniertagen auftretenden Künstlern, noch rund 200 weitere Künstler anwesend, um ihr Können zu beweisen.
Schon am Nachmittag kann man sie auf den einzelnen Bühnen oder den Straßen ihre Künste darbieten sehen. Bei Einbruch der Nacht dominieren die zahlreichen Feuerkünstler mit ihren Lichtershows das Geschehen, bis sie selbst im Schein eines grandiosen Feuerwerks am Himmel verblassen. An diesem Tag findet die Wahl des Gauklerkönigs statt, der feierlich am letzten Turniertag gekrönt wird. So kämpfen die Anwärter in dieser Nacht besonders hart um die Gunst der Wähler und geben sehr zur Freude des Publikums gar wahrlich ihr Bestes.
In der Arena und rund um Schloss Kaltenberg finden auch abseits des Ritterturniers zahlreiche Veranstaltungen statt. Sie reichen von klassischen Weihnachtsmärkten und Ostereiersuche, über Konzerte bis hin zu Filmpremieren. So wurde zum Beispiel die Deutschlandpremiere von "Chroniken von Narnia - Prinz Kaspian" im Juli 2008 in der Arena aufgeführt. Dazu waren sogar die Hauptdarsteller William Moseley (als Peter Pevensie) und Anna Popplewell (als Susan Pevensie) geladen. Natürlich durften die allgegenwärtigen Ritter von Kaltenberg auch nicht fehlen, die eine kleine Darbietung ihres Könnens zeigten.
Jetzt wurde bereits einiges über das Kaltenberger Ritterturnier erzählt. Doch was ist denn nun der Zauber von Kaltenberg, der bereits im Prolog erwähnt wurde?
Für die Einen sind es die Geschichten die in der Arena, als auch auf den kleinen Bühnen und zwischen den Marktständen erzählt werden. Die zusammen mit den Kostümen und dem ganzen Drumherum das Ganze noch realistischer erscheinen lassen. Für die Anderen ist es die Aktion während des Turniers oder auch auf den kleinen Bühnen. Wo sonst kann man heute den Stuntleuten bei der Arbeit zuschauen, ohne dass der aufgeführte Stunt durch unzählige Filmschnitte zerstückelt wird. Auch wenn Corvus Corax oder eine der anderen Bands aufspielen, kommen wir wie viele andere fast nicht mehr von deren Bühne weg. Es ist einfach etwas anderes es live zu erleben, als nur die Musik per CD oder MP3 anzuhören.
Aus den Augen des Fotografen betrachtet, ist es ein wahres Füllhorn an Motiven: Die historischen bis fantasievollen Kostüme der Darsteller oder auch des einen oder anderen Besuchers; die Aktionen Derselben, bei denen man schon mit einem einzigen Foto selbst eine kleine Geschichte erzählen kann; und nicht zu vergessen die Herausforderung bei der Abend-/Nachtveranstaltung einzigartige Bilder zu schießen, wenn die Ritter kämpfen oder die Feuerspucker mit den Flammen hantieren.
Im Grunde genommen ist es das gesamte Flair der Veranstaltung, die einen für ein paar Stunden in eine andere Welt entfliehen lässt, die man sonst nur in guten Büchern oder Filmen findet.
So fantastisch das Kaltenberger Ritterturnier ist, so ist gerade der zunehmende Erfolg die Kehrseite des Festivals. Der große Besucheransturm sorgt für enges Gedrängel und kann nur bedingt durch die Vergrößerung des Festgeländes kompensiert werden. Noch schwieriger ist es mit der Arena. Die wächst leider nicht so ohne weiteres mit den Besucherzahlen mit, so dass die Plätze für das heiß begehrte Turnier nur mit langen Vorreservierungen zu bekommen sind. Vor allem für jene, die im Kreise von Freunden oder der Familie kommen und zusammenbleiben möchten, ist das nicht immer einfach. Gerade Letztere haben auch mit den Preisen zu kämpfen. Zugegeben, das Spektakel ist seinen Preis wert. Es ist auch günstiger als Konzerte mancher Pop-Ikonen. Aber in dem Preis sind lediglich der Sitzplatz und der Eintritt für das Marktgelände enthalten. Wer aber noch ein Programm für die sieben Bühnen haben möchte, muss schon wieder extra in die Tasche greifen. Dazu noch Essen und Trinken, sowie vielleicht das Eine oder Andere Mitbringsel vom Markt und schon ist der Geldbeutel deutlich leichter.
Dass hier Begehrlichkeiten auch schon mal über das Ziel hinausschießen können, sieht man auch an den zunehmenden Restriktionen. So hat man z.B. die Möglichkeiten für Fotografieren und Filmen drastisch eingeschränkt. Selbst für private Zwecke ist das Veröffentlichen von Aufnahmen pauschal verboten. Die Regelungen sollen eigentlich jenen Einhalt gebieten, die Aufnahmen vom Turnier kommerziell vermarkten wollen. Leider sind davon aber auch die betroffen, die keinerlei Gedanken in diese Richtung hegen.
Für uns verliert das Kaltenberger Ritterturnier mit seiner ausufernden Kommerzialisierung leider an Reiz. Und so nehmen wir Abschied von jenen mystischen Hexen, tapferen Rittern und schönen Burgfräulein... und hoffen auf ein Wiedersehen so manch anderer Bühne...